Der Medikamentenmangel in Deutschland führt bereits jetzt etwa bei Antibiotika zu extremen Engpässen und neuen Abhängigkeiten. Politik, Pharmaindustrie, Ärzte und Apotheker müssen endlich gemeinsam, unbürokratisch und schnell gegensteuern – fordert Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer. Der Arzt, Wissenschaftler und Autor startet eine Initiative zum Kampf gegen Medikamentenmangel.
Die Pandemie ist kaum besiegt, da steuert unser Gesundheitssystem bereits in die nächste Krise: den „Notfall Penicillin“. Denn der Antibiotika-Mangel ist in Deutschland so dramatisch, dass wir die Situation nur noch mit Notstandsregelungen in den Griff bekommen. Es ist höchste Zeit, entschlossen zu handeln. Das heißt: Wir müssen die Lieferengpässe durch eine konzertierte Aktion von Politik, Pharmaindustrie, Ärzten und Apothekern kurzfristig beseitigen, die Finanzierungsgrundlage für eine verlässliche Versorgung sicherstellen und nationale Reserven für wichtige Medikamente bilden.
Landauf, landab sind die Warnungen aus Medizin und Gesundheitswirtschaft drastisch: „Die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen ist durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet“, zeigte sich kürzlich der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte in einem offenen Brief an die Gesundheitsminister verschiedener europäischer Staaten extrem besorgt. HNO-, Kinder- und Haus-Ärzte sind bestürzt, weil sie in schweren Fällen von Mandel-, Mittelohr-Entzündungen oder Scharlach nicht mehr helfen können. Ich weise gern auf die naturmedizinische Versorgung hin – doch die hilft nur bei leichteren Zuständen, wenn die Bakterienkonzentration (noch) gering ist. Eine bedrohliche Entwicklung für alle, die an solchen Infektionen erkranken.
Besonders dramatisch ist dies für Kinder und chronische Kranke. Doch in Apotheken fehlen derzeit nicht nur die so dringend benötigten Antibiotika, sondern neben Fiebersäften für Kinder unter anderem auch Brustkrebsmedikamente sowie Schmerz- und Hustenmittel.
Jahrelange Fehlanreize
Was wir sehen, sind die Folgen einer jahrelangen Fehlsteuerung im Gesundheitssystem. Der ökonomische Druck bei der Herstellung der Medikamente ist zu groß. Durch Fest- und Rabattverträge, die die Krankenkassen mit Pharmaherstellern abschließen, wird der Preis gedrückt. Die Produktion ist in Billiglohnländer wie China oder Indien ausgelagert worden. Wenn aber die Lieferkette – wie derzeit – nicht stabil ist, entstehen Abhängigkeiten. Eine fatale Entwicklung: Wirtschaftlichkeit geht vor Versorgungssicherheit. Zudem entsteht eine neue Erpressbarkeit, die gravierender und für den Einzelnen existenzieller wäre, als es etwa bei der Gaskrise der Fall war.
Produktion nach Europa zurückholen
Die Politik muss nun endlich handeln und die Fehler der Vergangenheit korrigieren. Es ist dringend notwendig, u.a. die Antibiotikaproduktion – gemeinsam mit unseren europäischen Partnern – nach Europa zurückzuholen. Außerdem muss alles getan werden, die Lieferketten wieder zu aktivieren. Dazu braucht es öffentlich-private Entwicklungsgesellschaften bestehend aus Vertretern von Politik, Industrie, Ärzte- und Apothekerschaft. Zudem muss die Bundesregierung die Grundfinanzierung für große Lagerkapazitäten und die Reserve bei wichtigen Medikamenten schaffen. Es ist wichtig, schnell und umfassend und unbürokratisch zu handeln – auf allen Ebenen. Auch gesetzlich. Dazu gehört auch, dass das Bundesgesundheitsministerium besser informiert über Vorsorge, über Verhalten bei akuter Infektion und Beruhigung der Bevölkerung. Wir müssen endlich damit beginnen, Grundlegendes zu verändern – und uns nicht damit begnügen, nur den Mangel zu verwalten. Wir befinden uns in einer medizinischen Notfallsituation in Deutschland. Zeit sofort zu handeln!
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer